Sprache ohne Vorschriften

Veröffentlicht am 16. August 2025 um 10:26

Sprache braucht Freiheit – und Märchen ebenso. Was passiert, wenn Regeln bestimmen sollen, wie wir erzählen oder schreiben? Über Gendersternchen, Heldinnen aus dem Baukasten und die Lebendigkeit von Geschichten.

 

Wenn Heldinnen nach Vorschrift kämpfen
Vom Sternchen, Märchenfiguren und dem Atem der Sprache

Immer wieder stosse ich auf Vorschriften: hier der Streit ums Gendersternchen, dort eine Anleitung, wie Märchen enden sollen. Gemeinsam ist beiden, dass Regeln den Erzählungen die Luft nehmen.

Kürzlich stiess ich auf eine Instruktion zum Märchenschreiben: Heldin oder Held, finsterer Gegenpol, magische Zutat und eine klare Herausforderung. Am Ende bitte ein Happy End wie bei Disney – und starke Mädchenbilder, frei von Stereotypen. Natürlich zucke ich zusammen, wenn eine blonde Königstochter auf ihren Prinzen wartet. Aber müssen jetzt alle Heldinnen Schwerter schwingen, um zu bestehen? Der Wunsch nach mehr Rollenflexibilität ist nachvollziehbar. Ich mag starke Frauenfiguren – ob sie kämpfen, schreiben oder lieben, wen sie wollen. Wichtig ist, dass sie keine Figuren aus dem Baukasten werden.

Wer Geschichten nach festen Kriterien gestaltet, nimmt ihnen ihre Lebendigkeit. Solche Vorschriften zwängen Erzählungen in ein neues Korsett. Das gilt für Sprache ebenso: Ob verpflichtendes Gendern oder kategorisches Verbot – beides schränkt den Raum ein, in dem Ausdruck wachsen kann. Sprache braucht Bewegung, Spielraum, Offenheit.

Diese Spannung zwischen Regelwerk und Entfaltung zeigt sich in der Erzählkultur wie auch in gesellschaftlichen Debatten. Doch Worte und Geschichten verlieren, wenn man sie zu eng führt.

Am Beispiel der Märchen wird deutlich, was Sprache im Kern ebenfalls braucht: Weite. Märchen sind kein pädagogisches Instrument, sondern ein schöpferischer Prozess. Sie spiegeln seelische Wahrheiten und gesellschaftliche Vorstellungen. Sie erzählen von Hoffnungen, Ängsten und dem, was wir für möglich halten – und was noch nicht. Sie sind nie neutral, doch sie lassen Risse, Lücken, Zwischenräume offen. Gerade dort entsteht Neues.

 

„Die Schwelle roch nach Rauch und Geheimnis. Aus: „Der Schlüssel im Sand“

– Bild: Atelier B SINN

Archetypen wollen nicht glattgebügelt werden. Sie dürfen Widersprüche tragen, Brüche aushalten und in Grautönen schimmern. Figuren wie die alte Frau, die Königstochter, der Drache oder der Held mögen auf den ersten Blick stereotyp wirken – die Kunst liegt darin, sie lebendig zu halten, ohne sie zum Klischee zu machen. „Die Königstochter muss stark sein, weil heutige Mädchen starke Vorbilder brauchen“ ist ebenso ein Rezept wie der schwule Prinz als Korrekturmassnahme. Beide sind erst mal Konstrukte, keine atmenden Figuren.

Geschichten halten erstaunlich viel aus, wenn man sie lässt. Hexen können ambivalent sein, Prinzessinnen queer, verletzlich und stark zugleich. Denken wir an Rumpelstilzchen: eine Figur, die hilft und droht. Ob männlich, weiblich oder irgendwo dazwischen, ist zweitrangig. Ihre Kraft liegt darin, sich Zuschreibungen zu entziehen und in ihrer Widersprüchlichkeit wirksam zu bleiben.

Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim beschreibt Märchen als Träger seelischer Wahrheiten, „nicht, weil sie realistisch sind, sondern weil sie innere Konflikte sichtbar machen“. Auch Verena Kast sieht in ihnen symbolische Geschichten über Entwicklungsaufgaben. Überfrachten wir sie mit Zuschreibungen, verlieren sie an Kraft. Stereotype sind Vereinfachungen und werden zu neuen Schubladen, die Vielfalt nur vortäuschen.

Vielleicht liegt die eigentliche Gefahr darin, diese Vereinfachung für Wahrheit zu halten – ob in Sprachdebatten oder in der Erzählkultur. Wir sehnen uns nach klaren Botschaften. Doch in einer komplexen Welt sind tastende, widersprüchliche Geschichten oft hilfreicher als vorgefertigte Lösungen. Vielleicht braucht es gerade diesen Mut: Figuren dürfen wachsen, sich verwandeln, straucheln – und Sprache darf das auch.

Am Ende öffnet sich der Raum nicht, weil wir den Schlüssel besitzen, sondern weil wir bereit sind, hindurchzugehen.

 

Wer selbst erleben möchte, wie Märchen lebendig bleiben, ist herzlich eingeladen zu meinem Märchenkurs im November – ein Wochenende zum Erkunden, Schreiben und Weitererzählen.

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