Die Kunst des Wartens

Veröffentlicht am 23. November 2025 um 14:22

Was bleibt vom Warten – jenseits von Ungeduld, Routine und dem schnellen Griff zum Handy?

Die Kunst des Wartens: In einer Welt, die sich mit Leerstellen schwertut

Kennen Sie das Marshmallow-Experiment? Ein Kind erhält ein Marshmallow, soll aber warten mit dem Essen, bis die Forscherin zurückkommt – dann würde es als Belohnung noch ein zweites geben.

Auf dem Tisch liegt der pastellfarbige Zuckerschaum, und man sieht, wie schwer es ist, das süsse Etwas nicht sofort wegzuputzen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich eines der Kinder gewesen wäre, die kein zweites erhalten hätten. Vor den langen Schulferien im Sommer konnte ich vor lauter Aufregung nicht mehr einschlafen, bevor es mit dem zugepackten Auto Richtung Süden ging. Und – ich gebe es zu – ich gehörte auch zu den vorwitzigen Knirpsen, die heimlich ein Adventskalenderpäckchen zu früh öffneten.

Aber, so fragte ich mich, als mein Sohn seinen Advents-kalender nie vor dem entsprechenden Tag öffnen durfte: Ist Warten wirklich eine Tugend, die man lernen sollte – wie im Experiment? Und was hat das eigentlich mit Geduld zu tun?Kinder sollen warten können, so die gängige Meinung. Doch Geduld ist eine Fähigkeit, die geübt werden will. Im Experiment zahlt sie sich aus, weil eine Belohnung winkt – im Leben ist das nicht immer so klar.

Manchmal warten wir, ohne je zu wissen, ob ein zweites Marshmallow kommt – auf eine Nachricht, auf Heilung, auf die richtige Wendung oder auf Godot. Da zeigt sich: Geduld ist nicht nur „Warten auf Lohn“, sondern die Fähigkeit, in der Ungewissheit zu bleiben, ohne daran zu zerbrechen.

Die Qualität der Zeit

Wenn ich an die vielen verschiedenen Arten von Wartehallen denke, so scheinen wir viel Zeit mit Warten zu verbringen. Wir sitzen angespannt in der Lounge am Flughafen, ängstlich in Wartezimmern von Spitälern, wir öffnen hoffend die Mailbox und warten gestresst auf einen Anruf. Wenn am Bahnhof die Lautsprecherstimme scheppernd verkündet, dass der Zug sich drei Minuten verspätet, spüren wir sofort dieses Kribbeln der Ungeduld. Wir erleben das Warten als verlorene Zeit – und wollen es so schnell wie möglich überbrücken.

Die amerikanischen Psychologen Aaron Sackett und Kollegen liessen 2010 in einer Reihe von Experimenten Menschen Aufgaben erledigen. Wer das Gefühl hatte, die Zeit sei wie im Flug vergangen, empfand die Tätigkeit hinterher als angenehmer, als wenn die Zeit langsam zu vergehen schien. Das zeigt: Nicht nur, worauf wir warten, entscheidet – sondern auch, wie wir die Zeit des Wartens erleben.

Der schnelle Kick – und seine Tücken

Früher wartete man ohne digitale Ablenkung. Las vielleicht noch in einer alten Zeitschrift mit abgegriffenen Eselsohren, faltete kleine Schiffchen aus dem zerknüllten Einkaufszettel oder knobelte weiter am halbfertigen Kreuzworträtsel (wohlverstanden ohne Hilfe aus dem Netz). Heute wandert die Hand fast von selbst in die Tasche – die nächste Ablenkung ist nur einen Fingertipp entfernt. Das Smartphone ist stets griffbereit, um uns vor nutzlos empfundenen Müssiggang zu bewahren. Es versorgt uns zuverlässig mit dem nächsten Dopamin-Kick. Doch dieser schnelle Schuss ist trügerisch. Holen wir uns den nächsten Kick zu früh, stumpfen wir ab: Das Besondere wird alltäglich, löst immer weniger Dopamin aus – und hinterlässt uns leerer als zuvor.

Da scheint sich das Warten können, das Sich-in-Geduld-Üben, doch auszuzahlen. In der Entwicklungspsychologie (Stichwort Marshmallow-Test) spricht man von „Belohnungsaufschub“. Die innere Qualität des Wartens, die entscheidet, wie wir warten. Man kann ungeduldig warten: nervös, ärgerlich, ständig auf die Uhr schauend. Oder man kann geduldig warten: präsent, atmend, vielleicht sogar das Warten selbst als «Zeit für sich» nutzen. Gelingt es, sich das Warten zum Freund zu machen, kann der Blick aus dem Wartezimmerfenster erholsame Minuten verheissen oder es gibt einen Moment der Ruhe, um still dazusitzen und für einmal nichts zu müssen. In einer Zeit, in der viele von uns vom Kalender getaktet sind, ein erholsamer Moment, um tief durchzuatmen.

Wenn Warten Raum schafft

Warten kann wie ein kurzer Reset sein: Es unterbricht das Dauerrauschen und schafft Raum. Ein Atemzug. Ein Blick nach draussen. Ein Gedanke, der sonst keine Zeit gefunden hätte. Mit einem Moment Ruhe und Stille lassen sich innere Spannungen besser balancieren. Weil Geduld bedeutet: Spannung aushalten, auch ohne sofortige Belohnung.

Diese Fähigkeit färbt unser alltägliches Ausharren in ein helleres Licht. Aus Leere wird Gelegenheit: zum Beobachten, Erinnern, Atmen. Und ganz nebenbei stärkt sie unsere seelische Widerstandskraft. Vielleicht entgeht uns genau das zweite Marshmallow, wenn wir das Warten ständig überbrücken: die Entdeckung, dass darin selbst schon ein Stück Leben steckt.

Ein leises Innehalten

Geduld ist Warten – und Vertrauen, dass es sich lohnt.

Und vielleicht ist es das, was ein Adventskalender uns jedes Jahr übt: ein kleines tägliches Innehalten, das nicht Belohnung verspricht, sondern Aufmerksamkeit.

 

Wer ein tägliches Innehalten sucht: Hier ist mein ⟶ Adventskalender

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