Märchen für Erwachsene – über das älteste Wissen der Seele

Veröffentlicht am 18. Oktober 2025 um 17:06

Viele Erwachsene halten Märchen für Kindergeschichten. Doch sie sind viel mehr. Märchen sind die älteste Sprache, in der Menschen über sich selbst gesprochen haben – in Bildern und Symbolen, die erst mit der Zeit ihre ganze Bedeutung zeigen. Wer Märchen liest, betritt keinen fiktiven Raum, sondern einen inneren.

Zwischen Königstöchtern und Dornenhecken verbergen sich die Landschaften unserer eigenen Seele.

Warum Märchen auch für Erwachsene passen

Immer wieder werde ich von Erwachsenen etwas ungläubig angeschaut, wenn ich sage, dass meine Märchen für eine erwachsene Leserschaft gedacht sind. Betrachtet man die Geschichte der Märchen, ist das weniger erstaunlich, als wir heute vielleicht denken.

Forschungen der Anthropologen Sara Graça da Silva und Jamshid Tehrani zeigen, dass manche europäischen Märchen bis zu 7000 Jahre alt sein könnten! Mit Methoden aus der Evolutionsbiologie liessen sich bestimmte Erzähltypen bis zu den Anfängen der indoeuropäischen Sprachfamilie zurückverfolgen – eine Zeit, in der man noch keine Schriftsysteme kannte.¹

Der Theologe John E. Zuck beschreibt selbst die biblische Erzählung als eine Form von „sekundärer Welt“, ähnlich wie Märchen oder Mythen sie erschaffen. Ihr Wahrheitsgehalt liege nicht primär in historischen Beweisen, sondern in der inneren Logik und Wirkung der Geschichte selbst.²

Die literarische Form des Märchens entstand nicht in Kinderzimmern, sondern an den Höfen der Renaissance. Autoren jener Zeit schrieben für ein erwachsenes Publikum. Ihre Inhalte drehten sich um Themen wie Macht, Begierde und gesellschaftlicher Ordnung. Erst im 19. Jahrhundert wurden diese Erzählungen in den bürgerlichen Familienkreis verlegt und kindgerecht umgeformt.

Die Brüder Grimm sammelten ihre Kinder- und Hausmärchen ursprünglich nicht für Kinder. Die erste Ausgabe von 1812 war ein sprach- und kulturwissenschaftliches Projekt – eine Sammlung überlieferter Volkserzählungen, voller archaischer Motive, Gewalt, Erotik und sozialer Härte: Geschichten für Erwachsene, die etwas über das Leben erzählten, nicht über Erziehung.

Erst später wurden sie „sanfter“. Dorothea Grimm, Wilhelm Grimms Gemahlin, bestärkte ihren Mann darin, die Texte moralisch klarer und familiär anschlussfähiger zu machen.


Der Literaturwissenschaftler Jack Zipes³ beschreibt diesen Prozess als eine Domestizierung der Märchen: Was einst mythisch, ambivalent und von Dunkelheit durchzogen war, wurde zur bürgerlichen Hauslektüre – lesbar für Kinder, erbaulich für Eltern.

So wandelte sich das Märchen von einem Spiegel innerer Konflikte und Lebensübergänge zu einem Genre für Kinder.
Doch in seinem Ursprung bleibt es das, was es immer war: eine Erzählform für Erwachsene, die sich den tiefen Bewegungen der Seele stellt – und sie in Bilder verwandelt. Vielleicht liegt die Kraft der Märchen darin, dass sie das Zeitliche überdauern. Sie handeln nicht primär von bestimmten Orten oder Epochen, sondern von inneren Bewegungen, welche die Menschheit bewegen.

C. G. Jung sah darin „Archetypen des kollektiven Unbewussten“ – Urbilder menschlicher Erfahrung, die in verschiedenen Kulturen unter anderen Namen, aber mit denselben Strukturen auftauchen.

In ihnen verdichten sich Erfahrungen, die grösser sind als das Einzelne: Angst und Mut, Verlassenheit und Vertrauen, Wandlung und Wiedergeburt.Märchen erzählen, wie das Leben sich selbst heilt – indem es das Dunkle nicht verdrängt, sondern verwandelt.

Vielleicht ist es genau das, was sie für Erwachsene so notwendig macht. Sie berühren unsere inneren Themen und holen sie nach vorne. Vielleicht sind Märchen die älteste Form von Selbsterkenntnis – in Geschichten verkleidet.

Ich arbeite in diesen Wochen wieder mit solchen Bildern. Jedes Mal öffnen sie etwas, das Worte allein nicht erreichen.
Vielleicht sind Märchen die älteste Form, in der wir lernen, uns selbst zu verstehen – damals wie heute.

 

Wer Lust hat, solchen Bildern zu begegnen:
Im November findet ein Märchen-Workshop statt –
und zwei meiner Märchen gibt es im Download.

 

Citations

1) Pagel, M. (2016). Anthropology: The Long Lives of Fairy Tales.
Current Biology, 26(7), R279–R281.https://doi.org/10.1016/j.cub.2016.02.042

2) Zuck, J. E. (1976). Biblical Narrative, Myth, and Fairy Stories.
Journal of the American Academy of Religion, 44(2), 299–308.
https://doi.org/10.1093/jaarel/XLIV.2.299

3) Zipes, J. (2006). Why Fairy Tales Stick: The Evolution and Relevance of a Genre.
New York: Routledge.

Bettelheim, B. (1976). The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales.
New York: Alfred A. Knopf. (Kapitel „The Child’s Need for Magic“)

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