Ein Plädoyer fürs Schreiben zwischen Alltag und Abgrund
Zwischen Alltag und Abgrund
Es gibt Menschen, die bauen Häuser. Andere bohren Tunnel durch Berge. Ich sammle Wörter von Menschen, die an ihrem eigenen Satzzeichen zweifeln. Nicht weil sie nicht schreiben könnten. Sondern weil das Leben irgendwann begonnen hat, ihre Sätze zu unterbrechen. Durch Schicksal, durch Pflichten, durch zu viel Lärm in der Küche. Und in der Seele. Der rote Faden? Verloren gegangen – irgendwo tief im Wollknäuel.
Was ich dann tue? Ich stelle einen Tisch hin. Einen Stuhl. Papier. Manchmal auch Tee. Dann sage ich: Schreiben Sie. Nicht für den Literaturpreis. Für sich. Für die Klarheit. Für das Atmen zwischen den Zeilen.
Und was dann geschieht, ist jedes Mal anders.
Manche lachen, während sie ihre selbstgeschriebenen Texte lesen.
Manche weinen.
Manchmal beides – mitten in einem einzigen Satz.
Worte zwischen den Zeilen
Ich bin seit vielen Jahren in der psychologischen Beratung tätig – das aufmerksame Zuhören begleitet mich bis heute. Ich bemerkte, dass Worte mehr können als trösten. Sie weisen Wege. Sie ermöglichen ein Hinschauen. Und manchmal helfen sie dabei, wieder aufzustehen. Meine Kurse heissen „Wortwerkstatt“, „Lyrische Hausapotheke“ oder „Biografisches Schreiben“. Eigentlich könnten sie auch heissen: Wie man leise sein kann in einer lauten Welt. Oder: Wie man die eigene Stimme zwischen Formularen und Pflichten zurückfindet. Oder: Wie ich neue, wunderbare Seiten in mir zum Klingen bringe.
Schreiben darf scheitern
Was mir wichtig ist? Dass niemand hier glänzen muss. Dass keine Schulnote droht. Und dass man beim Schreiben auch mal scheitern darf – aber bitte schön scheitern. Mit Würde, Kommafehlern und dem Mut, die eigene Geschichte nicht zu glätten.
Schreiben ist kein Luxus. Es ist ein Gegengewicht. Gegen Sinnlosigkeit, gegen Selbstverlust, gegen das Verstummen.
Und ja – manchmal ist Schreiben ein Zufluchtsort mit Füller. Und das darf es sein, gerade jetzt, wo vieles uns sprachlos macht. Schreiben ist eine Einladung an sich, den roten Faden zu finden – und nicht nur die Geschichte, sondern auch sich selbst wieder in die Hand zu nehmen.
Kommentar hinzufügen
Kommentare