
Was Freude schenkt, wird sinnhaft – nicht umgekehrt.
Wenn sinnvoll sinnlos wird – warum Sinn allein nicht genügt
Die Frage nach Zufriedenheit, Glück und Wohlbefinden beschäftigt uns seit Jahrtausenden – und sie stellt sich heute nicht weniger dringlich, sondern oft nur anders. Kürzlich las ich einen Artikel über Selbstverwirklichung im Beruf, der mich zum Nachdenken brachte.
Die Autorin Katrin Wilkens vertritt darin einen spannenden Gedanken: Wir sind nicht automatisch dann glücklich, wenn unsere Arbeit sinnvoll ist – sondern dann, wenn sie uns Freude macht. Und genau da beginne für viele, insbesondere für Frauen, das Dilemma. Denn Sinn wird häufig hoch bewertet – manchmal zu hoch.
Wilkens warnt: Wer dem eigenen Tun permanent Sinnhaftigkeit abverlangen will, läuft Gefahr, an zu hohen Erwartungen zu scheitern. Besonders problematisch wird das, wenn gesellschaftlich sinnvolle Berufe mit struktureller Überlastung und geringem Einkommen einhergehen – wie etwa in der Pflege oder im Sozialwesen. Zwar gelten diese Berufe als besonders „sinnvoll“, doch wenn der Alltag geprägt ist von Zeitdruck, Personalmangel und Systemversagen, bleibt von der erhofften Sinnstiftung oft nur Erschöpfung. Dass gerade diese Berufsgruppen zu den Spitzenreitern bei Burnout-Erkrankungen gehören, ist kein Zufall¹.
Glück – hedonistisch oder eudaimonisch?
Längst wissen wir: Schnelle Autos, Luxusreisen und andere Dopaminbooster machen nicht wirklich glücklich. Nachhaltiges Wohlbefinden entsteht aus etwas anderem – aus dem, was die Psychologie eudaimonische Ziele nennt. Der Begriff stammt von Aristoteles und steht für ein Leben in Übereinstimmung mit dem eigenen inneren Wesen.
Die Psychologin Carol Ryff² nennt als zentrale Faktoren:
- Selbstakzeptanz
- Persönlichkeitsentwicklung
- Beziehungen zu anderen
- Autonomie
- Alltagskompetenz
- klare Lebensziele
Der Soziologe Corey Keyes ergänzt³: Auch soziale Eingebundenheit, gesellschaftliche Anerkennung und das Empfinden, Teil eines grösseren Ganzen zu sein, tragen entscheidend zum Wohlbefinden bei.
Freude ≠ Sinn – eine notwendige Unterscheidung
Doch was hat das mit Frau Wilkens’ These zu tun? Ganz einfach: Die Gleichung „sinnhaft = freudvoll“ greift zu kurz. Nicht jede sinnvolle Tätigkeit macht Freude – und nicht alles, was Freude bereitet, muss von aussen als „sinnvoll“ gelten.
Lassen wir uns nicht blenden von „Visions and Missions“ gutmeinender Marketingabteilungen oder vom moralischen Nachglanz einer Florence Nightingale. Selbstverständlich kann eine sinnstiftende Arbeit uns beflügeln: Sie erzeugt Flow, lässt uns Kraftreserven anzapfen, die wir kaum für möglich hielten, und erfüllt uns mit Eudämonie. Die Zeit vergeht, die Müdigkeit weicht – und wir erleben uns als durch und durch lebendig.
Aber was, wenn diese Arbeit keine Freude (mehr) macht?
Freude stiftet Sinn – nicht umgekehrt
Wir empfinden eine Tätigkeit als sinnvoll, wenn sie uns Freude bereitet, Resonanz erzeugt und Selbstwirksamkeit ermöglicht. Wenn die Freude verloren geht, erlischt oft auch das persönliche Empfinden von Sinn – selbst dann, wenn die Aufgabe objektiv „wichtig“ bleibt.
Es lohnt sich daher, die Sinnfrage nicht nur idealistisch zu stellen, sondern ganz konkret:
Was an meiner Tätigkeit berührt mich?
Was motiviert mich?
Wo finde ich Freude – unabhängig von Fremdzuschreibungen?
Denn: Freude macht eine Tätigkeit sinnvoll. Aber Sinnhaftigkeit allein garantiert noch keine Freude.
Neu sortieren, was Sinn gibt – und wo Freude verloren ging?
→ Psychologische Beratung
Referenzen
1) Statista (2024). Berufsgruppen mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund von Burn-out-Erkrankungen im Jahr 2022. Retrieved 20240303 from Statista
2) Ryff, C. D. (1989). Happiness is everything, or is it? explorations on the meaning of psychological well-being. Journal of Personality and Social Psychology, 57(6), 1069-1081. doi:10.1037/0022-3514.57.6.1069
3) Keyes, C. L. (2006). Subjective well-being in mental health and human development research worldwide: An introduction. Social indicators research, 77, 1-10.
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